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Medien des Monats September: „Das Schuljahr war geprägt von Krisen“ – Interview mit Lehrkräften

„Das Schuljahr war geprägt durch Krisen“

Autoren/-innen: Philine Janus, Leonie Meyer für bpb.de

Quelle: „Das Schuljahr war geprägt durch Krisen“ | Lehrende der Zukunft | bpb.de, Lizenz CC BY-SA 4.0

09.08.2023 / 6 Minuten zu lesen

Die Sommerferien sind für Lehrerinnen und Lehrer immer auch eine Zeit der Reflexion. Wir haben drei Lehrkräfte gefragt, was das Schuljahr 2022/23 für sie ausgemacht hat.

Im Rahmen einer Sommer-Reihe auf dem Externer Link:Instagram-Kanal der Werkstatt haben wir Lehrkräfte darum gebeten, uns kurz zusammenzufassen, wie sie das vergangene Schuljahr erlebt haben und was sie sich vom kommenden Schuljahr versprechen. Hier finden Sie die Antworten zur ersten Frage:


Nicole Schweiß

Portrait von Nicole Schweiß. Sie hat braune Haare, die sie in einem losen Dutt trägt. Sie lacht und guckt nach links. Sie trägt eine weiße Bluse und pinken Lippenstift.
Lehrerin Nicole Schweiß. (© Nicole Schweiß)

35 Jahre, ist Lehrerin in NRW für die Fächer Pädagogik, Deutsch, Literatur, Kunst, Darstellendes Spiel. Daneben hostet sie den „Kleine Pause“-Podcast.

Was nehme ich mit?

Das Schuljahr 22/23 war anders herausfordernd als die beiden Jahre zuvor, die vor allem vom Umgang mit und dem Zurechtfinden in Zeiten der Pandemie geprägt waren.Zitat

In Teilen fühlte es sich wie ein „back to normal“ an und doch ist alles anders. Die letzten Jahre haben an den eigenen Kräften gezehrt, und es ist ein wenig so, als hätten wir alle erstmal Zeit für eine Reha gebraucht, die sowohl Lehrkräften als auch Schüler*innen nicht zugestanden wird.

Die Pandemie hat viele „Fehler im System“ sichtbar(er) gemacht und doch bleibt Schule sehr behäbig.

Was war in meinem Schulalltag prägend?

Außerschulische politische Bildungsarbeit (oder gar Aktivismus) neben einer vollen Stelle an einem städtischen Gymnasium in Köln zu machen, ist vor allem organisatorisch herausfordernd. Für mich bleibt es jedoch innerhalb des oft starren Schulsystems der einzige Weg, gegen die o.g. Behäbigkeit anzukämpfen und somit weiter motiviert diesem tollen Beruf nachzugehen.

Durch den Versuch, diese zwei Bereiche meiner Arbeit immer mehr miteinander zu verbinden, war das Schuljahr geprägt von vielen tollen Begegnungen inner- und außerschulisch, die sich gegenseitig beeinflussen. Gespräche mit Schüler*innen, die mir immer wieder zeigen, wie wichtig es ist, mit ihnen über die Dinge, die in der Welt passieren, zu sprechen, zeigen die Bedeutung und Dringlichkeit politischer Bildungsarbeit auf.

Besonders schön war beispielsweise, dass Schüler*innen der SV nach Unterstützung fragten, als sie einen Tag gestalten wollten, der die Geschehnisse in Iran in unserer Schule präsenter machen sollte. Sie organisierten ein Interview mit der Schauspielerin Elmira Rafizadeh, das sie dann allen Schüler*innen zeigten, designten Jutebeutel mit #womanlifefreedom und stellten Organisationen vor, die man aus der Ferne heraus unterstützen kann.

Ähnlich toll war ihr Engagement für die Opfer des Erdbebens in der Türkei, Syrien und den kurdischen Gebieten. Sie sammelten innerhalb kürzester Zeit tausende Euro Spendengeld. Das hat mich schwer beeindruckt. Oft können wir als Lehrer*innen von ihrem Pragmatismus viel lernen. Nicht so lang reden, einfach machen, auch wenn noch nicht alles konzeptionell zu 100 Prozent durchdacht ist.

Was hallt noch nach?

Diskriminierung und gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse haben in krisenhaften Zeiten leider oft Hochkonjunktur. Das Schuljahr war geprägt durch diese Krisen. Krieg in der Ukraine, Revolution in Iran, sterbende flüchtende Menschen an Europas Außengrenzen und vieles mehr. Rechtsruck und Rechtspopulismus in Gesellschaft, Politik und den Medien waren in diesem Jahr dauerpräsent und auch vor Schule machen entsprechend geschürte Narrative leider keinen Halt. Jeden Tag aktiv dagegen vorzugehen, raubt Kraft. Für viele Fragen, die mit diesen Krisen einhergehen, hat Schule noch keine ausreichenden Antworten gefunden. Es gibt also sehr viel zu tun. Demokratie bleibt nur wehrhaft, wenn ihre Vertreter*innen diese Aufgabe ernst nehmen. Hierzu müssten auch alle in der Schule beitragen.

Ich wünsche mir daher noch mehr Zusammenarbeit zwischen zivilgesellschaftlichen Organisationen und Schulen, mehr Diskurspräsenz für diejenigen, die jeden Tag in der Schule diesen Herausforderungen begegnen und politischen Veränderungswillen, ohne leere Worthülsen. Das wiederum müssen wir gemeinsam angehen und fordern.“


Joscha Falck

Porträt von Joscha Falck. Er hat kurze blonde Haare, trägt eine Brille und ein kariertes Hemd. Er lächelt in die Kamera. Der Hintergrund ist ein weißes Fenster. Der Hintergrund ist unscharf.
Lehrer Joscha Falck. (© Joscha Falck)

36 Jahre, unterrichtet in Bayern Sozialkunde, Deutsch, Geschichte, Sport und ist Schulentwicklungsmoderator.

„Das zu Ende gehende Schuljahr war von unterschiedlichen Aufgabenfeldern geprägt. In meiner direkten Umgebung wurde an einigen Schulen begonnen, 1:1-iPad-Klassen im Rahmen des bayerischen Pilotversuchs „Digitale Schule der Zukunft“ aufzubauen. Ehrlicherweise muss man sagen, dass hier vor allem aus technischer und organisatorischer Sicht eine Menge Arbeit drin steckt. Dennoch ist es unglaublich bereichernd zu sehen, wie sich die Unterrichtskultur verändert und verbessert und wie begeistert Schülerinnen und Schüler mit ihren Geräten lernen.

Darüber hinaus hat der Pilotversuch auch eine enge und befruchtende Zusammenarbeit mit anderen Schulen ergeben, die ich nicht mehr missen möchte. Es ist vor allem die intensive Vernetzung in der Region, in Bayern und über die Bundeslandgrenzen hinaus, die dazu beiträgt, dass wir uns vor Ort stetig weiterentwickeln können.

Dieser Themenbereich spiegelt sich auch im Rahmen meiner Fortbildungstätigkeit, die in unterschiedlichen Konstellationen und Aufgabengebieten einen größeren Teil meiner Arbeit ausmacht. Intensiv beschäftigt haben wir uns z.B. mit dem Aufbau einer neuen Lehr-/Lernkultur an Mittelschulen. Dazu haben wir Barcamps als erfolgreiches Fortbildungsformat in der Region etabliert und Lehrkräfte dazu gebracht, miteinander und voneinander zu lernen. Spätestens mit der Einführung von ChatGPT Ende November 2022 kamen dann noch inspirierende neue Möglichkeiten mit generativen KIs dazu. Hier war schnell klar, dass Maschinelles Lernen gewaltige Potenziale auch für die Schule mit sich bringt – nicht zuletzt zur Entlastung von Lehrkräften, aber auch zur Verbesserung von Lernprozessen für unsere Schülerinnen und Schüler.Zitat

Gleichzeitig macht sich aber auch ein Gefühl des Unbehagens breit, wohin die disruptive Kraft dieser Technologie uns und unsere Schule führen wird, ob wir das hohe Innovationstempo mitgehen können und all die technologischen Fortschritte reflektier- und bewältigbar bleiben.

Zuletzt konnte ich in meiner Rolle als Schulentwicklungsmoderator wahrnehmen, dass Schulen nach Jahren der Digitalisierung und den Notwendigkeiten der Pandemie auch bewusst wieder andere Schwerpunkte zur eigenen Profilschärfung auf die Agenda setzen. Das freut mich, weil es zeigt, wie bunt das Schulleben ist, was alles dazugehört und dazugehören kann, und dass die Weiterentwicklung von Schule und Unterricht nicht ausschließlich an digitalen Themen hängt.“


Christina Schreck

Selfie von Christina Schreck. Sie trägt ein rotes T-Shirt und lacht in die Kamera. Sie hat blonde, lange Haare.
Lehrerin Christina Schreck. (© Christina Schreck)

37 Jahre, unterrichtet in NRW die Fächer Deutsch, Geschichte, Literatur. Bis Sommer 2023 war sie Teil des „Kleine Pause“-Podcasts.

„Ich nehme aus dem vergangenen Schuljahr mit, dass große Veränderungen innerhalb des Systems Schule stattfinden und weiter auf dieses System zukommen, die es immer schwieriger machen werden, Schüler*innen und das Unterrichten in den Mittelpunkt zu stellen – dahin, wohin beides gehört.Zitat

Der Lehrer*innenmangel ist nicht nur in den Medien präsent, er wirkt sich schon längst vor Ort aus.

Gleichzeitig weiten sich Anforderungsbereiche der Lehrkräfte immer stärker auf Arbeitsfelder aus, in denen ihnen Kompetenzen fehlen oder für die unverhältnismäßig viel Zeit aufgewendet werden muss. Bürokratie und Verwaltung oder demgegenüber Diskriminierungssensibilität und Antirassismusarbeit als Professionskompetenzen sind nur Beispiele dafür.

Parallel dazu wird die Schulentwicklungsarbeit von „neuen“ Themenfeldern dominiert, wie Digitalisierung oder dem Umgang mit KI. Beide Felder werden das digitale Arbeiten auch in der Schule maßgeblich bestimmen, und das Bildungssystem kann diesen Anforderungen noch lange nicht gerecht werden. Es fehlt an Personal, Fachräumen, Ausstattung, umfassenden Weiterbildungsmöglichkeiten und Motivation. Die Überbelastung von Lehrenden wirkt sich schon heute konkret aus und gleichzeitig steigen die beruflichen Anforderungen immer weiter an.

Jede Schule entwickelt individuelle Lösungsansätze für all diese Bereiche, aber auch das ist ein systemimmanentes Problem. Statt auf Vernetzung zu setzen und zeitliche Ressourcen für Austausch, Weiterbildung und Kommunikation zwischen und innerhalb von Bildungseinrichtungen zu schaffen, werden Schulen mit der statistischen Erfassung aller Problemlagen und verschiedener Datenlagen beauftragt.

Wichtiges Ziel für die Zukunft müsste auf jeden Fall die nachhaltige Implementierung von Strukturen sein, die Lehrkräfte entlasten, um so mehr Raum für das Wesentliche zu schaffen: Die zukunftsorientierte und diskriminierungskritische Arbeit mit den Schüler*innen und das motivierte, nachhaltige Lernen aller am System Beteiligten.“


Die Statements der Lehrkräfte, die in diesem Beitrag ihre Perspektive geteilt haben, sollen nicht als repräsentatives Meinungsbild verstanden werden. Wir freuen uns über weitere Stimmen – gerne per Mail an: redaktion@werkstatt.bpb.de